Sitzung des Holländisch-skandinavischen Komitees mit der Delegation der MSPD, 11. Juni 1917

P/32b
BA Berlin, NL Hermann Müller, 188, 17-27. Mschr., 11 S.1

11. Juni 1917 nachmitt.[ags] 3/4 4 Uhr.

   Troelstra eröffnete die Sitzung und teilt
mit, dass die schwedischen Genossen noch im Reichstag beschäftigt sind,
sie wollten um 1/2 4 Uhr da sein.

   Ebert: Wir haben die Antwort schriftlich
ausgearbeitet; aber die Vervielfältigung ist hier schwierig, während
der Sitzung werden noch genügend Exemplare besorgt werden. Wir
könnten inzwischen über Punkt 1 zu verhandeln beginnen.

   Troelstra: Wir sind damit einverstanden.

   David verliest die Antwort zu 1) betr.
Friedensbedingungen.

   Branting stellt die Frage, ob es Absicht ist,
dass für die Beurteilung der elsass-lothr.[ingischen] Frage es nicht
darauf ankomme, festzustellen, was die Bevölkerung selbst
wünscht.

   David: In der Antwort befindet sich ein Hinweis
auf die Stellungnahme der elsass-lothringischen Volksvertretung. Diese
Volksvertretung ist auf Grund des demokratischsten Wahlrechts in Europa
gewählt. Nur eine kurze Ansässigkeitsklausel schränkt die Zahl
der Wähler ein. Das Wahlgeheimnis ist durch Couverts und Kabinette
geschützt. Der letzte Wahlkampf führte zu einer vollkommenen
Niederlage des nationalistischen Blocks. Ein Ausdruck des Willens der
Gesamtbevölkerung ist damit gegeben. In Metz wurde z.B. in der Stichwahl
Georg Weill gegen den Nationalisten gewählt. Weill vertrat in der Neuen
Zeit 1901 den Standpunkt, dass die Befragung der Bevölkerung für uns
nichtig sei. Jetzt freilich will er anders. Die Berner intern.[ationale]
parlamentarische Konferenz war der Grund für die Einbringung der Colmarer
Resolution auf dem Jenaer Parteitag 1913; Grumbach hat sie dort
begründet.2

   David weist noch auf die letzte Kundgebung des
els.[aß]-lothr.[ingischen] Landtags, im besonderen auf die Rede Rickels
[Ricklins], hin und auf die Kundgebung der Bezirkstage.

   Branting: Diese Tatsachen sind uns nicht
unbekannt. Vor dem Kriege schien der Zankapfel Els.[aß]Lothringen
beseitigt. Das war vor dem Krieg und unter der Voraussetzung, dass kein Krieg
kommen würde. 1871 haben die Vertreter der Bevölkerung im
französischen Parlament und die Häupter der Internationale gegen die
Annexion protestiert. Jetzt ist der Krieg da. Mit ethnographischen Reden
über Els.[aß]Lothringen kann man das vor dem Kriege begangene
Unrecht nicht aus der Welt schaffen. Die Stimmung vor dem Kriege ist durch die
Verhältnisse zerstört. Grumbach hat eine Broschüre zu seiner
Rechtfertigung geschrieben.3 Jetzt gilt es, eine Verständigung
zu suchen. Die angeführten Wahlen sind vor dem Kriege gewesen. Sie sind
nicht massgebend für die Stimmung, die jetzt im Lande ist. Für den
Ausländer liegt da der Gedanke nahe, die Frage zu stellen, was die
Bevölkerung selbst will. Es gilt festzustellen: was wollen Menschen, wenn
sie sich frei äussern können. Während des Krieges sind viele
Verfolgungen und Bestrafungen vorgekommen. Die Internationale kann das alles
nicht ohne weiteres bei Seite lassen. Grenzbevölkerungen haben zu
verschiedenen Zeit zu verschiedenen Staaten gehört. Wenn Sie so sicher
sind der Stimmung der Bevölkerung und in der Einschätzung der
ökonomischen Tendenzen, dann würde ich mich an Ihrer Stelle nicht
scheuen, die deutsche Auffassung durch Abstimmung bestätigen zu lassen.
Eine internationale Konferenz wird sich damit nicht zufrieden geben, dass
erklärt wird, dass dies eine innerdeutsche Frage sei. Man tut klug in
Deutschland, wenn man vor diesen Tatsachen die Augen nicht verschliesst.

   Troelstra: Was David sagte, war uns meist
bekannt. Es muss zugegeben werden, dass der Standpunkt der deutschen
Sozialdemokratie in dieser Sache stark ist. Vor dem Kriege war eine
Vereinbarung getroffen über diese Frage zwischen den deutschen und
französische Sozialisten. Dennoch hat die Angelegenheit für unsere
Arbeit eine grosse internationale Bedeutung erhalten. Sie steht jetzt im
Vordergrund bei der Erörterung der Möglichkeit, den Frieden zu
schliessen. Ich bedaure, dass diese Frage diese Bedeutung erhalten hat. Ich
bedaure, dass sich die französische Partei festgelegt hat wie die
chauvinistischen Kreise ihres Landes. Ich bedaure diese schroffe Stellung.
Früher war eine Vereinbarung getroffen worden, um einen Krieg zu
vermeiden. Jetzt stehen wir nun vor der Frage, dass der Krieg wegen
Els.[aß]Lothringen verlängert werden soll. In grossen Zügen
stimmt meine Stellungnahme mit den Ausführungen Davids überein. Wir
sind hierher gekommen, um ein einheitliches Programm zu schaffen zur
Zusammenführung der Internationale. Dass die Regierungen die
Volksabstimmung nicht haben wollen, ist verständlich. Sie sehen darin
einen Eingriff in ihre Souveränität. Aber die sozialistischen
Parteien sind nicht verpflichtet, sich von Schritten abhalten zu lassen, die
mit ihrem Prinzip im Einklang wären. Meinen Sie, dass die Frage
Els.[aß]Lothringen derart ist, dass wegen dieser Frage die Vereinigung
der sozialistischen Parteien unmöglich gemacht würde? Wenn man wegen
dieser Frage einig wäre, wäre es dann nicht ein Verbrechen, den Krieg
zu verlängern? Ich stehe als Sozialdemokrat auf dem Boden des
Selbstbestimmungsrechts der Nationen, wie der Kopenhagener Beschluß es
vorsieht.4 David wollte beweisen, dass die Frage durch die Wahlen
und die Beschlüsse des els.[aß]lothr.[ingischen] Landtags erledigt
sei. Das ist theoretisch gedacht. Waren die letzten Wahlen der freie Ausdruck
der Bevölkerung über diese Frage selbst? Oder wurde damals nicht aus
anderen opportunistischen Gründen abgestimmt? Viele haben damals gedacht,
dass andere wichtige Dinge zur Entscheidung ständen, nicht die durch den
Krieg erst wieder aufgeworfene Frage. Bei einer Abstimmung würden die
Stimmen aller über die Frage der Angliederung abgegeben werden. Deshalb
ist man verpflichtet, diese Frage zu tun. Die jetztige Antwort ist keine
Annäherung, nicht einmal an die Minorität der französischen
Partei. Ich bin nicht blind für die Möglichkeit der Volksabstimmung.
Aber auch in Wendels Artikel ist viel Kasuistik.5 Dabei verkenne ich
keineswegs die Schwierigkeiten. Die Sozialdemokratie will ja auch nicht die
Abstimmung aus Gründen der Sache selbst, sondern subsidiär, um zu
einer Verständigung zu kommen. Wenn die deutsche Sozialdemokratie
über eine solche Bereiterklärung einig wären, hätte das
eine grosse moralische Wirkung für die Verständigung. In neutralen
Ländern, besonders bei den sozialistischen Parteien, würde eine
solche Aeusserung Ihres Willens mit grossem Enthusiasmus als befreiende Tat
begrüsst werden.

   Die französische Partei ist gebunden durch die
öffentliche Meinung. Auch die deutsche Partei trägt eine grosse
Verantwortung wegen der Zukunft. Wenn ein Bericht hierüber erschien[e],
würde ein Sturm in der öffentlichen Meinung losgehen. Es würde
ihr sehr schwer gemacht werden, für den Frieden weiter zu arbeiten. Ich
will deshalb jetzt nur die Anregung geben, wie wünschenswert es wäre,
den Wünschen der französischen Sozialisten nachzukommen. Wenn die
deutschen Sozialisten nach Hause kommen, müssen sie darüber
nachdenken, ob nicht in letzter Stunde der Versuch gemacht werden kann, hier
Besserung zu schaffen.

   van Kol: Hier soll eine Lösung gefunden
werden. Er verweist auf seine Broschüre.6 Man könnte die
Frage der Volksabstimmung an ein Schiedsgericht, aus Neutralen zusammengesetzt,
überweisen. Man könnte diese fragen, ob die Zurückführung
1871 an Deutschland eine Annexion genannt werden kann, ob Teile von
Els[aß]-Lothringen oder das Ganze an Deutschland gegeben oder ob es
ausgetauscht werden soll gegen Kolonien, die mehr Wert haben, ob nicht ein
Pufferstaat gemacht werden kann. Damit würde ein Krieg in der Zukunft
vermieden werden. Die Frage ist von beiden Seiten aufgebauscht. Sie ist aber
mehr eine Frage für Chauvinisten und Kapitalisten als Sozialisten. Wenn
die Frage nicht erledigt wird, gibt es keine Ruhe in Europa.

   Molkenbuhr: Unsere Aufgabe ist es, möglichst
bald zum Frieden zu kommen. Kein Staatsmann wäre imstande, selbst wenn er
es wollte, Deutschland zum Verzicht auf Els.[aß]Lotringen zu bringen. Das
wäre die Forderung eines Verrückten. Ein solcher Staatsmann
würde wegen Landesverrats angeklagt werden. Man stelle sich vor, die
Franzosen hätten 1870 grosse Strecken von Deutschland besetzt gehabt und
dann hätte man ihm [ihnen] zugemutet, Els.[aß]Lothringen an
Deutschland zu geben. So etwas war in der Weltgeschichte noch nicht da. Das
hiesse, den Krieg auf ewigen Zeiten ausdehnen. Eine Volksabstimmung ist in
einem von Militär besetzten Lande ein Unding.

   Redner weist dann auf die Verhältnisse im Minette-Gebiet
hin. Dieses abzutrennen hiesse Deutschland eines seiner Glieder berauben. Der
deutsche Phönix und die Luxemburg-Gesellschaft haben dort ihre Hauptwerke.
Selbst ein sozialdemokratischer Reichskanzler könnte
Els.[aß]Lothringen nicht herausgeben. Er könnte so nicht Frieden
schliessen.7

   Scheidemann: Die Tatsachen seien wohl bekannt,
wird gesagt. Wenn das richtig ist, dann versteht man jedoch nicht, sie zu
würdigen. Wie kann man sonst Forderungen stellen, die kein Land
erfüllen kann. Unser Gewissen protestiert dagegen, weil die
Bevölkerung sich abgefunden hat. Nach einer solchen Politik würde ein
neuer Revanchekrieg in Aussicht stehen. Die französischen Sozialisten
müssten sich ein Beispiel nehmen an Bebel und Liebknecht 1870. Denn jetzt
wollen die anderen annektieren, während die Bevölkerung sich
abgefunden habe. Kein Land erträgt Annexionen Hier handelt es sich um
kerndeutsches Land. Die Rückgabe Els.[aß]Lothringens wäre der
Keim zu einem neuen Kriege. Wie heute die französischen Sozialisten
argumentieren, so argumentierte 1871 die deutsche Bourgeoisie. Ja, diese wird
noch weit in den Schatten gestellt. Redner verweist auf das Bild der letzten
Wahlen. Die eigene Industrie, der Weinbau, die Textil-Industrie verlangen das
Bleiben Els.[aß]Lothringens bei Deutschland; der bessere Arbeiterschutz,
den wir haben, desgleichen. Jedenfalls müssen wir alles tun, damit ein
neuer Krieg nicht vorbereitet werden kann. Und zur Frage der Abstimung: Wer
soll abstimmen? Die in Els.[aß]Lothringen Geborenen, deren Eltern in
Franreich waren? Wie soll die Abstimmung der einzelnen Bezirke vorbereitet
werden? Wie würde die Frage stehen, wenn es sich um eine schwedische
Provinz handelt? Bei solchen Fragen muss die ganze Nation abstimmen. Und wenn
es Els.[aß]Lothringen dann nicht gefiele, dann müsste wieder
abgestimmt werden. Wie kann man ein Schiedsgericht der Neutralen anrufen gegen
einen Staat, der zur Zeit so dasteht, wie Deutschland. Wir haben unsere Form
gewählt nach reiflicher Ueberlegung. Ueber Grenzberichtigungen kann man
reden, wie es in unserm Memorandum steht und wie [wir] es die Russen auch
wissen liessen.8 Wenn die Franzosen weiter die Stellung einnehmen,
die sie bisher einnahmen, dann befürchte ich fast, dass eine
Verständigung nicht möglich ist. Die Franzosen haben sich ihrer
Regierung angeschlossen und diese will Els.[aß]Lotringen wieder haben.
Wir lassen uns nicht von nationalen Strömungen leiten. Wir haben Stellung
genommen gegen den Chauvinismus in unserm Lande. Wir wären als Partei
erledigt, wenn wir die Els.[aß]Lothringer deutscher Kultur gegen Neger
austauschten. Mit einer solchen Frage haben wir uns überhaupt noch nicht
beschäftigt. In der Auseinandersetzung über diese Frage hat sich
selbst Ledebour dagegen gewehrt, darüber zu diskutieren.9 Wenn
der Krieg fortgesetzt werden soll, wenn die Franzosen bei dieser Forderung
bleiben, so bleibt diesen die Verantwortung für die Fortsetzung des
Krieges. Bei uns hat nie einer gesagt, dass wir bis zum letzten Mann und zum
letzten Groschen kämpfen. Wir werden über unsere Formulierung nicht
hinausgehen können.10

   Branting: Es tut mir leid, dass die deutsche
Delegation nicht weiter gehen kann. Wenn es ein kerndeutsches Land ist, dann
hat die Bevölkerung damals Dialekt gesprochen. Es ist nicht die ganze
Wahrheit, dass damals Bebel nur wegen der Annexion protestiert hat; er wies
auch darauf hin, dass die Bevölkerung nicht zur Entscheidung angerufen
wurde. Die Schulen, die Arbeiterversicherung sind dort besser; aber auch
Nachteile sind dagewesen. Bebel hat in Stuttgart11 darauf
hingewiesen, dass die els.[aß]lothringische Bevölkerung 1871
revoltierte, weil sie wegen der französischen Revolution ihre
Zugehörigkeit zu Frankreich empfunden hätte. Wenn Jentland
[Jämtland]12 z.B. wieder zu Norwegen wollte, und die
Bevölkerung wollte das, würden wir in Schweden dagegen nicht Stellung
nehmen. Wir würden über eine Abstimmung verhandeln. Wenn solche
Stimmungsgründe auch nicht wissenschaftliche nachweisbar sind, dann sind
solche Stimmungen doch zu verstehen. Wenn in Deutschland nicht ein Sozialist
für die Abstimmung eintritt, dann ist das bedauerlich. Ich beklage, dass
es so ist und wir müssen mit dieser Tatsache rechnen. Wir dürfen
selbstverständlich solchen Fragen nicht nur kritisch gegenüber
stehen, wir haben die Aufgabe, zu vermitteln. Wir müssen uns auch den
Franzosen gegenüber bemühen, dass keine Revanchestimmung aufkommt,
wenn die Bevölkerung gegen sie entscheidet.

   Rich.[ard] Fischer: Hier liegen die Dinge so,
dass nicht die Els.[aß]Lothringer eine Abstimmung verlangen, sondern
Frankreich und England verlangen sie. Von einem historischen Unrecht kann gar
nicht die Rede sein. Dann müsste man auf das Unrecht von 1688
zurückgehen.13 Marx, Engels, Bebel, Liebknecht haben die
Franzosen immer gewarnt vor einem Revanchekrieg auf Seiten Russlands. Wir
nehmen die Haltung ein, die wir immer eingenommen haben.

   Stauning: Ich billige die Grundsätze des
Memorandums, wie das Troelstra tut. Ich finde es verständlich, dass sich
die deutsche Sozialdemokratie mit grosser Sorgfalt ausspricht. Es ist unbillig,
ihr zuzumuten, das eigene Land preis zu geben. Die Frage stände anders,
wenn ein wirklicher Wunsch der Bevölkerung vorläge und die
Beschlüsse des Landtags nicht da wären. Eine Abstimmung zu
veranstalten wäre sehr schwierig. Ebenso ist es schwer, von aussen eine
Lösung vorzuschlagen, sei es auch durch eine neutrale Kommission.
Vielleicht könnte im Memorandum noch präziser ausgedrückt
werden, dass die Sozialdemokratie für die Selbstständigkeit
Els.[aß]Lothringens eintritt. Vielleicht könnte man sich mit dieser
Frage nochmals beschäftigen. Die Stelle in Bezug auf die Autonomie
könnte noch präziser gefasst werden.14

   David: Die Frage nach weitgehender Autonomie ist
in unserer Antwort beantwortet. Der Hinweis auf die Pflege der nationalen
Einheit ist ebenfalls enthalten. Aber vielleicht lässt sich noch eine
bessere andere Formulierung finden. Im Rahmen des Reichs wollen wir alles
für die Selbstständigkeit Els.[aß]Lothringens tun.

   David unterstreicht im übrigen Fischers Ausführungen.
Es ist falsch, wenn Grumbach behauptet, dass man sich eine Hintertür offen
halten wollte. Bebel wollte niemals auch nur einen Fuss breit deutschen Bodens
preis geben. Eine solche Preisgabe hiesse den Militarismus fördern, die
Revancheströmung stärken. Die Revancheströmung, die in
Frankreich mit dem Lothringer Poincaré und mit Delcassé wieder
aufkam. Der Gedanke der Volksabstimmung gibt prinzipiell Deutschland Unrecht,
insofern als es den Frankfurter Frieden nachträglich
korrigiert.15 Die els.[aß]lothringische Partei lehnt es ab,
diese Frage als europäische Frage aufzuwerfen. Die Frage der
Volksabstimmung kürzt, wenn man sie aufwirft, nicht ab. Sie ist keine
Lösung. Die Sache stellt sich so dar, dass Annexionen gegen Deutschland
erlaubt sind, aber gegen die anderen nicht.

   Ebert weist die Ausführungen von van Kol
zurück, dass er einmal erklärt habe, es müsse bis zum letzten
Mann und Groschen gekämpft werden. Er erläutert die Stellung von
Bebel und Anderen zu der els.[aß]lothringischen Frage. Wir haben diese
Frage als endgültig gelöst betrachtet. Denselben Standpunkt haben die
Parteitage eingenommen. Die Stimmung der Els.[aß]Lothringer sei auch
nicht so, wie sie von Branting dargestellt werde. Selbst die radikalen
Parteimitglieder in Els.[aß]Lothringen teilen den von uns vertretenen
Standpunkt.

   Ebert verweist hierzu auf die Beschlüsse der
els.[ässischen] Landtage hin. Wenn während des Krieges in Elsass
Konflikte vorgekommen sind, so hänge dieses damit zusammen, dass dieses
Operationsgebiet ist und dass die gesamte Macht auf das Militär
übergegangen sei. Er weist auch darauf hin, dass die
els.[aß]lothringischen Abgeordneten in der vertraulichen
Kommissionssitzung sich in derselben Weise wie öffentlich ausgesprochen
hätten. Das Verhängnis sei, dass die französischen Genossen sich
so scharf festgelegt haben, trotz Warnung von verschiedenen Seiten vor dem
Kriege, z.B. durch Sembat.16 Der Bedeutung der Frage für die
weiteren Stockholmer Konferenzen seien wir uns durchaus bewusst und deshalb
hätten wir gerade diese Frage so sorgfältig geprüft.

   Müller: Wegen des Wunsches von Stauning
seien wir zu Entgegenkommen bereit. Die deutschen Sozialisten wollen vor allen
Dingen den Keim zu neuen Kriegen vermeiden und haben sich daher von Anfang an
ohne Rücksicht auf die militärische Lage gegen Annexionen
ausgesprochen. Die Uebergabe von Els.[aß]Lothringen an Frankreich sei
aber [als] nichts anders als eine Annexion aufzufassen. Wenn den Franzosen
einmal in ruhiger Zeit vorgeführt wird, was sie das Festhalten an der
Revancheidee gekostet hat, wird es keine els.[aß]lothringische Frage mehr
geben. Frankreich hat heute schon an Männern mehr Tote als
Els.[aß]Lothringen Bevölkerung hat, Säuglinge, Greise,
Männer und Frauen eingeschlossen. Als der Baseler Kongress17
sich zur Vermeidung von Kriegen mit den europäischen Fragen befasste, habe
er die els.[aß]lothringische Frage als Kriegsfrage nicht anerkannt. Er
habe über diesen Fall mit Bebel selbst damals gesprochen.

   Auch die deutsche Minderheit habe bisher in dieser Frage
denselben Standpunkt eingenommen.18 Der Fall Zabern sei gar keine
speziell els.[aß]lothringische Frage; diese von einem preussischen
Leutnant provozierte Angelegenheit hätte sich ebenso gut in einer anderen
Stadt zutragen können. Die Deutschen hätten für die
Demokratisierung Deutschlands einen schwierigen Kampf zu führen; sie
könnten ihre Position dabei nicht aufs Spiel setzen durch ein
ungerechtfertigtes Entgegenkommen.

   Söderberg Die Unterhaltung über diese
Frage wird kaum ein anderes Resultat haben. Die Kommission habe sich ja auch in
erster Linie die Aufgabe gestellt, zu hören. Die Franzosen dem deutschen
Standpunkt näher zu bringen wird sehr schwierig sein. Vielleicht wird es
möglich sein, die Els.[aßLothringer selbst zu einer Art Abstimmung
zu veranlassen. Wenn dort in Versammlungen der im übrigen Deutschland
vorhandene Standpunkt geteilt werde, wird das vielleicht einen Eindruck auf die
Franzosen machen. Er verstehe den Standpunkt der deutschen Delegation, die eine
Abstimmung ablehne.

   Bauer hält den von Söderberg
vorgeschlagenen Weg für ungangbar. Das wird auch auf die Franzosen keinen
Eindruck machen. Es gäbe keinen anderen Weg, als dass die gewählten
Vertreter des Volkes sprechen. Das sei geschehen, könne aber leicht von
neuem veranlasst werden. Eine Aenderung unseres Standpunktes sei nicht
möglich. Wir hätten stets im Gegensatz zu den Franzosen den
Annexionismus abgelehnt. Die Phrase in den Ententeländern über den
Kampf für die Demokratie u.s.w. verursache in Deutschland nur ein
mitleidiges Lächeln. Das soll auch einmal den Gegnern gesagt werden.

   Vidnes versteht nach den Aeusserungen der
deutschen Genossen, dass die Frage schwieriger ist, als sie sich gedacht haben.
Er versteht auch ihren Standpunkt. Wie sei es aber möglich, ein
Einverständnis herbeizuführen. Der Vorschlag von Stauning löse
die Frage nicht. Vielleicht sei es möglich, die Frage vorläufig ganz
bei Seite zu lassen, was aber auch wenig ausführbar erscheine. Eine
Abstimmung während des Krieges sei unmöglich. Man müsse die
Lösung bis nach dem Kriege hinausschieben.

   Troelstra teilt Aeusserungen des
französischen Gen.[ossen] Lafont mit,19 die ihm den Gedanken
eingegeben hätten, sich mit einer Erklärung von beiden Seiten zu
begnügen dahingehend, dass wegen der els.[aß]lothringischen Frage
der Krieg nicht verlängert werden dürfe. Er weist auch auf
französische Pressestimmen hin, die diesen Standpunkt teilen.

   van Kol erkennt die Gründe der Deutschen an,
will aber wisssen, ob die Deutschen allein wegen Els.[aß]Lothringen den
Krieg fortsetzen wollen.

   Huysmans: Die Frage sei: gibt es eine Frage
Els.[aß]Lothringen. Das sei leider zu bejahen, auch wenn die Deutschen es
nicht anerkennen wollen. Er hält eine Abstimmung für demokratisch und
möglich. Die deutsche Erklärung lautet: ich kann und will nicht. Die
Aeusserungen der Volksvertreter haben keinen Wert. Vor dem Kriege habe er auch
die Frage Els.[aß]Lothringen als erledigt behandelt. Jetzt sei sie aber
wieder aufgetaucht und könne nur durch Abstimmung erledigt werden. Er
hält es nicht für ausgeschlossen, dass Els.[aß]Lothringen sich
gegen Frankreich ausspreche.20

   David: Die von Troelstra angeregte Erklärung
entspreche ganz unserer Auffassung. Dann möchten die Franzosen davon
Abstand nehmen, wegen Els.[aß]Lothringen den Krieg fortzusetzen. Dagegen
sei es selbstverständlich unmöglich, die deutsche Regierung zu
veranlassen, Els.[aß]Lothringen herauszugeben.

   Huysmans fragt, ob man nicht die deutsche
Regierung veranlassen könne, nach dem Kriege in Els.[aß]Lothringen
über die weitere Zugehörigkeit abzustimmen.

   David hält diesen Vorschlag für
schwer durchführbar. Gegen Huysmans betont er die Bedeutung der bisherigen
Aeusserungen der els.[aß]lothr.[ingischen] Abgeordneten.

   Troelstra erläutert seinen Vorschlag, dass
die Konferenz erklären soll, wegen Els.[aß]Lothringen dürfe der
Krieg nicht fortgesetzt werden. Die els.[aß]lothr.[ingische] Frage
hänge mit anderen Fragen eng zusammen, auch mit dem politischen System in
Deutschland.

   Legien wendet sich auch gegen die Aeusserungen in
den Ententeländern wegen Förderung der deutschen Demokratie und wegen
des Kampfes gegen die Kultur. Die Wiederaufrollung der Frage
Els.[aß]Lothringen sei durch die Kriegspsychose der Gegner verursacht
worden. Ein Referendum sei praktisch unmöglich; auch ein Nachteil, wie es
Huysmans vorschlage. Wenn die Franzosen erklären, wegen
Els.[aß]Lothringen soll der Krieg nicht fortgesetzt werden, so seien wir
vollständig einig.

   Die nächste Sitzung soll am 12. Juni stattfinden.

Anmerkungen

1   Zu diesem Protokoll siehe den Kommentar in Dok. Nr. P/27a,
Anm. 1. Eine andere Version des Protokolls in Dok. Nr. P/32a mit den jeweiligen
Nachweisen und Kommentaren, die hier im einzelnen nicht wiederholt werden.

2   Siehe Nachweise in Dok. Nr. P/32a, Anm. 8, 9, 11 und 12.

3   Siehe Dok. Nr. P/32a, Anm. 9.

4   Zitiert in Dok. Nr. P/27a, Anm. 27.

5   Siehe Dok. Nr. P/32a, Anm. 19.

6   Siehe Dok. Nr. P/32a, Anm. 21.

7   Siehe Dok. Nr. P/32a, Anm. 22.

8   Durch Borgbjerg den Russen übermittelt; dazu Dok. Nr.
P/10a mit Nachweisen.

9   Siehe Dok. Nr. P/32a, Anm. 24.

10   Siehe Dok. Nr. P/33c mit Anm. 3 und Dok. Nr. P/34a-b.

11   Stuttgarter Kongreß der Internationale 1907; siehe auch
Dok. Nr. P/32a, Anm. 25.

12   Siehe Nachweis in Dok. Nr. P/32a, Anm. 27.

13   Siehe Dok. Nr. 32a, Anm. 29.

14   Siehe Sitzung der Delegation der MSPD am 12.6.1917, Dok. Nr.
P/33c.

15   Der Frieden von Frankfurt a. M. am 10.5.1871 beendete den
deutsch-französischen Krieg von 1870/71.

16   Siehe Dok. Nr. P/32a, Anm. 39.

17   Außerordentlicher Kongreß der Internationale in
Basel 1912.

18   Siehe Dok. Nr. P/32a, Anm. 43.

19   Siehe Dok. Nr. P/31a, Anm. 5.

20   Vgl. Dok. Nr. P/32a mit Anm. 50.