Pressekommuniqué zur Sitzung des Holländisch-skandinavischen Komitees mit der Delegation der Ukrainischen sozialdemokratischen Partei Österreichs, 14. Juni 1917

P/36a
CHA, Stockholm, N. & C., Juni 1917: 3. Hekt., 4 S.1

COMMUNIQUÉ A LA PRESSE                                     18 Juin 1917.

   Das holländisch-skandinavische Komitee empfing Donnerstag den 14 Juni die Delegation der ukrainischen sozialdemokratische[n] Partei Oesterreichs, vertreten durch Wladimir Temnyzky, Obmann des Parteivorstandes der ukrainischen Sozialdemokratie Oesterreichs.2

   Die ukrainische Delegation ist der Meinung3 dass zwar der Imperialismus die allgemeine Ursache des Krieges sei, jedoch die ungeregelten4 nationalen Verhältnisse in Mittel- und Osteuropa dem Imperialismus5 vielfach als guenstiger Kriegsvorwand gedient haben.6 Dieselbe[n] Verhältnisse werden auch geschickt7 dazu ausgenuetzt, um die Klassengegensätze zu verdunkeln und unter dem Vorwande des [der] nationalen Solidarität das Proletariat8 auf die Irrwege der nationalistischen9 Politik zu verleiten.

   In Beruecksichtigung dieser10 Umstände erachtet die ukrainische Delegation die11 Lösung der nationalen Frage als ein Gebot der Gerechtigkeit und als eine Voraussetzung eines daurnhaften [dauerhaften] Friedens, sowie der Entwicklung der sozialistischen Idee. Der Friedensschluss muss internationale Garantien fuer die vollste Gleichberechtigung aller Völker schaffen.12 Diese Gleichberechtigung soll auf dem Wege des Selbstbestimmungsrechtes und der politischen territorial-nationalen Autonomie durchgefuehrt werden. Die territoriale Abgrenzung der autonomen nationalen Gebiete soll den Grenzlinien der ethnischen Siedlungen entsprechen, wobei den fremdnationalen Enklaven die weitgehendsten Minoritätsrechte sichergestellt werden muessen. Die Vereinigung der von einer Nation bewohnten Gebiete in ein einheitliches autonomes Staatsgebilde ist dringend notwendig fuer eine guenstige Lösung der nationalen Fragen. Die Delegation ist jedoch nicht fuer das Zerschlagen der bestehenden Staats- und Wirtschafsgebiete sondern fuer ihre Umgestaltung.13

   Aus diesen prinzipiellen Grundsätzen resultieren folgende Richtlinien fuer die praktische Politik der ukrainischen Sozialisten mit Einsicht [Hinsicht]14 auf den zu schliessenden Frieden: Die nationalgemischten Staate[n] Mittel und Osteuropas: Oesterreich-Ungarn, Russland und die Balkanstaaten sollen in Föderativstaaten autonomer und gleichberechtigter Nationen umgebildet werden. Das [was] insbesondere die nationalen Forderungen des ukrainischen Volkes, welches gegenwärtig drei verschiedenen Staaten (Russland, Oesterreich, Ungarn) angehört, betrifft, so ist das Endziel der ukrainischen nationalen Politik die Vereinigung aller ukrainischen Gebiete, in ein einheitliches politisch autonomes Staatsgebilde; könnte jedoch diese Endziel bei dem kommenden Friedensschluss nicht erreicht werden, so fordert die ukrainische Delegation sowohl fuer die Ukrainer in Oesterreich-Ungarn, wie fuer jene in Russland die vollständige politische territorial-nationale Autonomie im föderativen Zusammenhange mit den erwähnten Staaten.15 Folglich erklärt sich die Delegation gegen die weitere Beibehaltung der bis nun bestehenden Kronländergrenzen in Oesterreich, resp. Gouvernementsgrenzen in Russland und fuer eine neu durchzufuehren[de] Abgrenzung der Gebiete auf Grund der ethnischen Siedlungen. Die ukrainische Delegation verwirft16 die Bestrebungen dem zu bildenden polnischen Staate auch gewisse ethnographische wie historisch ukrainische Gebiete (Cholmland, Ostgalizien, Pidlazié) einzugliedern, und beharrt dabei, dass diese Gebiete nur an andere ukrainische Gebiete angeschlossen werden duerfen.17 Gleichzeitig erklärt sich die ukrainische Delegation fuer Wiederherstellung Polens aber nur in seinen et[h]nographischen Grenzen, bei [der] selbstverständlichen Sicherstellung der Minoritätsrechte fuer fremdnationale18 Enklaven im wiederherzustellenden Polen.

   Zum Schutze der nationalen Gleichberechtigung aller Völker soll bei dem zu errichtenden internationalen Schiedsgerichte ein besonderer Ausschuss zur Wahrung der Rechte der Völker gebildet werden. Jedem Volke, das sich in seinen Rechten durch ein anderes Volk oder durch den Staat, welchem es angehört, verletzt erachtet, soll das Recht zustehen, seine Beschwerden diesem Ausschuss vorzulegen und eine internationale Intervention zu verlangen.19

   Desweiteren erklärt [sich] auch die ukrainische Delegation fuer den ehesten Friedensschluss ohne Annexionen und Kriegskontributionen. Diejenigen Völker, auf deren Territorien der Krieg gefuehrt wuerde [wurde], sollen fuer der [den] erlittenen Schaden in vollen Massen durch die kriegsfuehrenden Staaten entschädigt werden, soferne der Krieg nicht im Interesse des betreffenden Territoriums gefuehrt wuerde, sondern es ohne sein Zutun zum Kriegsschauplatze geworden ist.

   Die Delegation erklärt sich fuer Wiederaufrichtung eines selbständigen Belgiens,20 Rumäniens und Serbiens bei gleichzeitiger Vereinigung Serbiens mit Montenegro. Was Fin[n]land und Elsass-Lothringen anbelangt, so ist die Lösung der Frage dem gemeinsamen Einvernehmen der dabei unmittelbar interessierten Völker zu ueberlassen, wobei der Wille der bodenständigen Bevölkerung dieser Länder massgebend sein muss.21

   In Bezug auf die wirtschaftlichen und volksrechtlichen Fragen schliesst sich die ukrainische Delegation den Ausführungen der deutsch-oesterreichischen Delegation an.22

   Die ukrainische Delegation ist fuer die Einberufung einer allgemeinen Konferenz der Arbeiter- und sozialistische[n] Parteien verlangt aber dass den Vertretern der ukrainischen sozialdemokratischen Parteien aus Oesterreich und Russland alle Rechte einer besonderen nationalen Sektion der Internationale schon auf diesem Kongresse und in dem Internationalen Sozialistischen Büro gewährt werden.23 Sie erachtet die Vertretung aller nationalen Sektionen auf dem Kongresse, sowohl der Mehrheiten wie der Minderheiten fuer notwendig.

Durch einvernehmliche Beschlüsse der einzuberufenden Konferenz soll fuer die Arbeiter aller Länder eine gemeinsame Basis geschaffen werden, auf welcher die sozialistischen Parteien eine energische Arbeit zur Herbeifuehrung und Erzwingung des ehesten allgemeinen Friedens aufnehmen sollen. Von dem kommenden Friedensschluss erwartet die Delegation die Abschaffung der stehenden Heere, die Organisation von nur der Landesverteidigung dienenden Volksheere und die vertragsma[e]ssige allgemeine Abruestung sowie Abschaffung der geheimen Diplomatie.24

Anmerkungen

1   Dort auch hschr. Entwurf von Wladimir Temnyzkyj, mit Verbesserungen und Streichungen, dat. 15.6.1917. Hekt. auch in ARAB, Holländsk-skandinaviska kommittén, Box 1; IISG, NL Troelstra, 433, und Collection Deuxième Internationale, 221. Abgedruckt in schwed. Social-Demokraten 19.6.1917, S. 1 und 5; Vorwärts 20.6.1917, S. 2 (zusammengefaßt); Internationale Korrespondenz (IK) Nr. 41, 6.9.1917, S. 309-310, und auszugsweise bei Brügel 1925, S. 299 (dort genannt Organisation der ruthenischen Sozialdemokratie Österreichs). - Siehe Dok. Nr. P/36.

2   Temnyzkyj kam am 7.6.1917 nach Stockholm. - In einem Schreiben der Ukrainischen sozialdememokratischen Partei Österreichs an Huysmans vom 3.5.1917 war neben Temnyzkyj Leo (Nikolaus) Hankewytsch als weiterer Vertreter angekündigt worden, in CHA, Stockholm, Corr., Mai 1917, Nr. 14. Das wurde in der Komiteesitzung am 15.5.1917 genannt, Dok. Nr. P/12. Eine Bleistiftnotiz "26 mai" von Huysmans auf dem Schreiben könnte sich auf die Diskussion der ukrainischen Frage auf der Vorkonferenz mit den Österreichern am 26.5. beziehen. Am 25.5. wurde die Frage der Zulassung der Ukrainer diskutiert, siehe Dok. Nr. P/21 mit Anm. 5. - Die Vorkonferenz war offensichtlich schon für den 13.6. vorgesehen, siehe Notizen von Huysmans, nachgewiesen in Dok. Nr. P/31a, Anm, 1: "III Ukraine: mercredi / seul et avec Adler".

3   Memorandum in CHA, Stockholm, N. & C., Juli 1917:1 (hekt., deutsch) und abgedruckt in Stockholm 1918, S. 141-167. Das Memorandum beschreibt ausführlich die ethnografische Verteilung der Ukrainer in den verschiedenen Ländern und behandelt die Frage des Selbstbestimmungsrechts, nicht zuletzt der unterdrückten Nationalitäten, in erster Linie der ukrainischen, in Österreich-Ungarn und Rußland sowie der durch die imperialistischen kriegführenden Staaten besetzten Länder. Auch wenn man sich hauptsächlich mit den nationalen Problemen in Österreich-Ungarn, Rußland und den Balkanstaaten befaßt, werden u.a. auch die Flamen (siehe unten Anm. 20), Irland, Indien, Persien, Ägypten, Tripolitanien, Armenien genannt.

4   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf danach gestrichen: "und ungerechten".

5   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf gestrichen: "den imperialistischen Kriegshetzern".

6   Dies wird auch von Seiten der österreichischen Delegation hervorgehoben, siehe Dok. Nr. P/21 mit Anm. 11 und Dok. Nr. P/22a.

7   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf davor gestrichen: "auch sonst von den herrschenden bürgerlichen Parteien bewusst und".

8   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf danach gestrichen: "von seiner internationalen Klassenpolitik abzuführen und".

9   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf gestrichen: "bürgerlich-nationalistischen".

10   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf danach gestrichen: "für die Entwicklung des Sozialismus höchst schädlichen".

11   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf danach gestrichen: "endgültige gerechte".

12   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf danach gestrichen: "Nach diesem Kriege darf es für die Zukunft hin keine herrschenden und keine unterdrückten Völker mehr geben; der Friedensschluss muss die allgemeine Befreiung aller bis jetzt unterdrückten Völker mit sich bringen. Diese Regel muss für alle Völker gleiche Bedeutung haben und die Völker dürfen nicht in vollberechtigten "Nationen" und minderwärtige "Nationalitäten" geteilt werden".

13   Dies auch der österreichische Standpunkt, siehe Dok. Nr. P/21 und P/22a.

14   So in dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf.

15   Vgl. Dok. Nr. P/22, Anm. 14.

16   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf gestrichen: "erklärt die ukrainische Delegation den entschiedensten Protest dagegen".

17   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf danach gestrichen: "niemals und unter keine Bedingung an Polen!"

18   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf danach gestrichen: "(vor allen ukrainische)".

19   In dem in Anm. 1 nachgewiesenen hschr. Entwurf danach gestrichen: "Der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der einzelnen Staaten soll dadurch eine zweckmässige Einschränkung erfahren". Im oben in Anm. 3 nachgewiesenen Memorandum wird auch die Umwandlung Europas in "une confédération générale des peuples: les Etats-Unis d'Europe" als dauerhafte Lösung der nationalen Probleme vorgeschlagen ("l'unique solution propre").

20   Im oben in Anm. 3 nachgewiesenen Memorandum wird auch die flämische Frage angesprochen: "Les Flamands ne doivent pas être mis en infériorité dans l'avenir, comme ils l'ont été jusqu'ici". Eine Föderation "de deux nations libres" wird befürwortet.

21   Im Hinblick auf Elsaß-Lothringen ähnlich wie der ungarische Standpunkt, im Gegensatz zu dem der Österreicher und MSPD, siehe Dok. Nr. P/21, Anm. 47, und Dok. Nr. P/34a mit Anm. 13. Im oben in Anm. 3 nachgewiesenen Memorandum wird Elsaß-Lothringen nicht angesprochen, dagegen "les problèmes polonais et danois en Allemagne".

22   Zu den Sitzungen mit der Delegation aus Österreich siehe Dok. Nr. P/21 und P/22. - In der Komiteesitzung am 26.5.1917, Dok. Nr. P/22, wurde die ukrainische nationale Frage kurz gestreift, und Ellenbogen verlangte "nationale Autonomie". Im österreichischen Memorandum, nachgewiesen Dok. Nr. P/21, Anm. 1, wird die ukrainische Frage nicht angesprochen.

23   Siehe Dok. Nr. P/21, Anm. 5.

24   Der in Anm. 1 nachgewiesene hschr. Entwurf ist unterschrieben: Stockholm 15/VI 17 Waldimir Temnyzkyj Delegierter der ukrainischen socialdemokratischen Partei Oesterreichs.