Sitzung des Holländisch-skandinavischen Komitees mit der armenischen Delegation, 26. Juli 1917

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CHA, Stockholm, N. & C., Juli 1917:3. Hschr. (Arthur Engberg), 7 S.1

                       
                       
                       
             
26 juillet 17

Les Armeniens

Le 26 juillet 1917

Branting, Troelstra, Söderberg, Huysmans, Engberg

   Branting: Begrüsst Gen.[ossen]
Zo.[rian]2 und betont dass d.[ie] arm.[enische] Frage d.[ie]
ganz.[e] civil.[isierte] Welt berührt.3 Gen.[osse] Varandian
hat auch Sthm [Stockholm] passiert und er hat gesagt dass es offenb.[ar]
wäre dass auch d.[ie] arm.[enische] Frage berücksichtigt
werde.4

   Zo[rian]: Erst d.[ie] Stellung d.[er] Partei zur [zum]
ital.[ienischen] Kriege. Man hatte vorgeschl.[agen] eine Balkanfeder.[ation]
u.[nd] ein auton.[omes] Armenien [zu schaffen]. Die Partei hat auch einen Krieg
zw[ischen] d.[en] Grossmächten vorausgesehen. Deshalb hatte d.[ie] Partei
schon da erklärt (in Erzerum) dass die Türkei in einem
europ.[äischen] Konfl.[ikt] Neutral.[ität] bewahren müsse.
(Siehe Beilage!)5

   Wir waren in d.[er] Türkei die erste Part.[ei], die die
Integr.[ität] Armeniens forderte. Wir haben unser mögl.[ichstes]
getan um eine Revol.[ution] zu tun. Es war uns auch gelungen. Ein
Komitée in Genf. Dann ein Kongr.[eß] in Paris mit d.[en]
Jungtürken. Fordert d.[en] Sturz d.[es] Abdul Hamid u.[nd]
Einführ.[ung] d.[er] Konst.[ituante]. Nach d.[em] Sturz d.[es] Abd.[ul]
Hamid arbeitete d.[ie] türk.[ische] Partei mit. Wir haben die
türk.[ische Integritet [Integrität] mit allen Mitteln gewollt. Das
jung-türk.[ische] Komité fing an ein Programm zu entw[erfen] wie
früher. Die Massaker fingen an. Nach d.[em] Kongr.[eß] d.[er]
Jung.[türken] in Saloniki näherte sich das jungtürk.[ische]
Komité. Wir wissen dass man eine Gel.[egenheit] suchte um d.[ie]
Arm.[enier] zu vertilgen. Diese Politik von Abd.[ul] Hamid angefangen. Vor dem
Kriege wurde dieselbe Politik gegen Griechenland praktiziert. Massendeportation
von Smyrna. 100,1000 [wohl 100000] deportiert. Die Muselmans Nachfolger. Dieser
Krieg hat den Vorwand gegeben. Die Mächte im Kriege engagiert.
Deutschl.[and] u[nd] Oesterreich uninteressiert.6

   Branting Wir kennen schon d.[ie]
Massnahmen auch hier.

   Zo.[rian]: Im russ.[ischen] Gebiete 2 Mill.[ionen] Armenier und
in d.[em] türk.[ischen] 1 1/2 Millionen. 100,1000 [wohl 100000] in
Persien. Eine besond.[ere] soz.[ialistische] Org.[anisation] haben wir auch im
russ.[ischen] Gebiete.

   Huysmans: Was denken die Armen.[ier] über d.[as]
arm.[enische] Problem?

   Zo.[rian] Die arm.[enisch]-türk.[ische] Frage
eine internat.[ionale] Frage. Unsere Part.[ei] hat erklärt dass wir
soziale Reformen vorziehen in d.[en] russ.[ischen] Teilen. Die russ.[ische]
Reg.[ierung] bereit kult.[urelle] Autonomie zu geben. Keine Trennung der
Administr.[ation] wünschenswert. Wir werden Vertretung in der Konstituante
haben. Türk.[isch]-Arm.[enien] wird nicht die Rolle der Fin[n]länder
spielen. Bis zu den Massakern wollten wir nur Autonomie unter d.[en]
Türken aber nach d.[en] Massakern unmögl.[ich] Das
Selbstbest[immungs]recht d.[er] Völker schwierig hier wo die Muselmanen
unsere ausgerotteten Einwohner ersetzt haben. Für d.[as]
Türk.[isch]-arm.[enien] fordern wir also die Ausmerzung der
muselm.[anischen] Immigranten. Wir wollen vollständige
Unabhängigkeit
. Auf russischer Seite Autonomie und auf
türk.[ischer] Seite auch administr.[ative] Unabhängigkeit. - Nach der
Wiederherst.[ellung] soll das Selbstbest[immungs]r.[echt] Armenien zuerkannt
werden. Wir wollen garantierte Neutralität.7

   Es giebt 2 Arten Kurden. Die einen sind nicht Muselmanen die
anderen sind es aber. Die autonome Org.[anisation] d.[er] Kurden ist für
unsere Autonomie nützlich.8

   Huysmans: Giebt's andere Organisationen?

   Troelstra: Ihre Sache sehr kompliziert weil es da eine
Trennung ist zw.[ischen] d.[en] russ.[ischen] u.[nd] türk.[ischen] Teilen.
Wäre es ein einz.[iger] Staat von 4 Mill.[ionen] wäre es
leichter. Wäre nicht jetzt die Lage da alle Ihre Kräfte zu
vereinigen? Oder fürchten Sie Widerstand von den Russen?

Anmerkungen

1   Siehe auch Notizen von Huysmans, CHA, Stockholm, N. & C.,
Juli 1917:3, und Notizen Troelstra, IISG, NL Troelstra, 423; letztere sind
datiert "27 Juli 1917". Kommuniqué Dok. Nr. P/59a. - Zu Armenien und der
Revolutionären Föderation Armeniens "Daschnaktzoutioun" Varandian
1917; Hovannisian 1967 und 1971; Bihl 1975, S. 166-181; Dasnabedian 1989; Ter
Minassian 1994.

2   Stepan Zorian (Rosdom), u.a. Mitverfasser der ideologischen
Einleitung zum Parteiprogramm (1892) der Revolutionären Föderation
Armeniens "Daschnaktzoutioun", gegründet 1890. Lebte zeitweise in Genf, wo
die armenische Gruppe eine wichtige Rolle für die Partei spielte und ab
1893 das Parteiorgan "Droshak" herausgegeben wurde (eingestellt 1915-1924).
Nahm an mehreren Kongressen der Internationale teil.

3   Zum Engagement in Schweden 1917 siehe die vom Linkssozialisten
Carl Lindhagen organisierte Massenkundgebung zur "fürchterlichen Lage der
Armenier" ("Armeniernas fruktansvärda ställning") in Stockholm am
27.3.1917, u.a. mit einer Rede von Branting und der Schriftstellerin Marika
Stiernstedt, die sich in dieser Frage besonders engagierte; in schwed.
Social-Demokraten 28.3.1917, S. 4. In einer Resolution wurde "im Namen des
Rechts, der Zivilisation und der Barmherzigkeit" ("i rättens,
civilisationens och barmhärtighetens namn") energisch gegen die brutale
Behandlung der Armenier protestiert. Man forderte de schwedische Regierung,
sich alleine oder zusammen mit anderen Regierungen neutraler Länder
für die Armenier einzusetzen ("för den armenska befolkningens
rätt till skydd för sina liv, sin egendom och sin
nationalitet" [für das Recht der armenischen Bevölkerung auf
Schutz für ihr Leben, ihr Eigentum und ihre Nationalität]). Im
gleichen Sinne und mit der gleichen Formulierung interpellierte Carl Lindhagen
im Reichstag am 22.5.1917. Branting kritisierte in seiner Stellungnahme dazu
die ablehnende Haltung und die Non-Interventionspolitik der schwedischen
Regierung, protestierte gegen die Massaker in Armenien - übrigens auch
gegen die gegenwärtigen und geplanten Pogrome gegen die Juden in
Palästina - und hob das Ideal einer internationalen Rechtsordnung hervor.
Weitere Stellungnahmen zugunsten von Armenien: Marika Stjernstedt an Branting,
25.5.1917, in ARAB, NL Branting, 3.1:12, und die in Stockholm herausgegebene
Broschüre "De armenska fasorna. Ögonvittnens ovederläggliga
berättelser" (1917) [Die armenischen Greuel. Die unwiderlegbaren Berichte
von Augenzeugen]. Siehe auch Paul Desfeuilles, Le mouvement proarménien
en Scandinave, in La voix de l'Arménie Nr. 2, 15.1.1918, S. 52-55. -
Dank für Brantings Stellungnahme nachgewiesen in Dok. Nr. P/39, Anm.
4.

4   Siehe Varandian an Branting, 7.7.1917, in ARAB, NL Branting,
3.1:12. Er kündigt seine baldige Reise nach Petrograd ("bientot") an,
dankt für Brantings Stellungnahme zu Gunsten von Armenien [d.h. am 22.5.],
erwartet die Behandlung der armenischen Frage im
Holländisch-skandinavischen Komitee und trägt die Forderung nach
Autonomie Armeniens vor. In einem Postskriptum warnt er vor den sog.
türkischen Sozialisten, die nach Stockholm kommen. Ähnlich Varandian
an Huysmans, 7.7.1917, mit dem gleichen PS, in CHA, Dossiers, I 605 B. - Siehe
auch die 1917 erschienene Broschüre von Varandian, L'Arménie et la
question arménienne; Exemplar aus dem NL Branting in ARAB. Er fordert
dort u.a., Armenien von der Türkei zu "deannektieren"
("désannexer") und nach dem Selbstbestimmungsrecht ein von den
Mächten garantiertes autonmes Armenien zu bilden. - Mikayel Varandian
(Varantian), der Theoretiker und Ideologe der Revolutionären
Föderation Armeniens "Daschnaktzoutioun" und deren Vertreter im ISB, lebte
hauptsächlich in Genf und Paris.

5   Eine Beilage liegt nicht bei. Es handelt sich wohl um
"Déclaration de la Fédération Révolutionnaire
Armeniene - Daschnatioutioun" (hschr., 85 S., mit Streichungen und
Verbesserungen), das Memorandum, das jetzt in CHA, Stockholm, Losse documenten,
zu finden ist. Das Memorandum ist abgedruckt in Stockholm 1918, S. 261-286. -
Die im Protokoll genannten Stichworte aus der Darstellung von Zorian sind im
Memorandum, u.a. im historischen Überblick, ausführlich
erläutert. Zu den Massakern vor 1914 und von 1915 siehe Hovannisian 1967,
S. 48-57, und Hovannisian 1971, S. 8-15; Trumpener 1968, S. 200-270; Gunst
1993; Kröger 1994, S. 383-386.

6   Nach den oben in Anm. 1 nachgewiesenen Notizen von Troelstra
betonte Zorian, daß seine Partei seit der Gründung des ersten
revolutionären Komitees der Jungtürken in Genf 1897 und nach einem
gemeinsamen Kongreß in Paris mit den Jungtürken zusammenarbeite auf
der Grundlage des Kampfes gegen Abdul Hamid und der Beibehaltung der
Integrität des Ottomanischen Reiches. Nach dem Sieg der Jungtürken
1908 seien die Armenier von ihnen "betrogen" worden und "Daschnaktzoutioun"
habe 1912 mit ihnen gebrochen. Bereits vor dem Weltkrieg sei es zu
Deportationen gekommen (von mehr als 100000 Griechen), deren Dörfer
Moslems überlassen worden seien. Dann nach Kriegsausbruch: "Dieser Krieg
gab den Vorwand für scharfe Vernichtung (Kapitulationen aufgegeben -
Heiliger Krieg" ("Deze oorlog gaf voorwendsel tot krassen exterminatie
(capitulaties opgegeven - Sainte Guerre)"). - Zu den international vereinbarten
Bestimmungen zum Schutz der Armenier ("Kapitutalitionen") siehe das Memorandum
in Stockholm 1918, S. 280f. Zur Haltung der Mächte den Deportationen und
dem Massker 1915 gegenüber siehe Trumpener, Gunst und Kröger,
nachgewiesen oben in Anm. 5. - Die Frage der Deportationen und Massaker 1915
war auch in der Komiteesitzung mit der türkischen Delegation angesprochen
worden, Dok. Nr. P/56 mit Anm. 18 und 19. Der türkische Vertreter schob
die Schuld daran einerseits revolutionären armenischen Umtrieben,
andererseits allgemein dem Kriegsgeschehen zu, nicht der türkischen
Regierung.

7   Nach den oben in Anm. 1 nachgewiesenen Notizen von Troelstra
erklärte Zorian: "Arm. partij behoort óók tot Russ.
partij / homogeen met nieuwe system in Rusland / geen eigen
nationale eischen daar / eischen geen compleet autonoom Armenie / alleen den
Turk. Arm. vraag internationaliseeren / Vragen van Turkij: tot massacres
autonomie in Turkij na -"- [Wiederholungszeichen: massacres] niet
meer. Vrage nu: zelbestemm.recht nu niet te verwezenlijken - da meeste
Arm. gedood of gedeporteerd - nu de musulmanen de meerderheid in Arm. prov.
willen eerst: gelegenheid tot terugkeer van Arm. daarna: uitspraak der Armenier
/ willen dan: een eigen staat voorloopig onder beheer der machten
- gegaranteerde neutraliteit" [Armenische Partei gehört auch der
russischen Partei an /überein mit dem neuen System in
Rußland / keine eigenen nationalen Forderungen dort / fordern
keine vollständig autonomes Armenien / nur die türkisch-armenische
Frage internationalisieren / verlangen von Türkei: bis zu den
Massakern Autonomie in der Türkei, nach den Massakern nicht
mehr. Verlange jetzt: Selbstbestimmungsrecht jetzt nicht zu
verwirklichen, weil die meisten Armenier getötet oder deportiert
sind, jetzt die Moslems in der Mehrheit in den armenischen Provinzen.
Wollen zuerst: Möglichkeit zur Rückkehr der Armenier. Danach:
Entscheidung / wollen dann: einen eigenen Staat,
vorübergehend unter dem Schutz der Mächte - garantierte
Neutralität].

8   In den oben in Anm. 1 nachgewiesenen Notizen von Troelstra:
"willen ook: aparte organisatie der Kurden" [wollen auch: gesonderte
Organisation der Kurden]. - Zu den Kurden im Memorandum in Stockholm 1918, S.
267, 276f.