Pressekommuniqué zur Sitzung des Holländisch-skandinavischen Komitees mit der Delegation von Poale Zion am 26. Juli 1917

P/60c
ARAB, Holländsk-skandinaviska kommittén, Box 1. Hekt., 5 S.1

COMMUNIQUÉ A LA PRESSE.

   Das Holländisch-Skandinavische Komitee empfing am 26. Juli die Delegation des Juedischen Sozialistischen Arbeiterverbandes Poale-Zion. Die Delegation, die aus den Genossen B. Borochow, L. Chasanowitsch, S. Kaplansky, B. Locker und J. Zerubavel besteht, ueberreichte dieser Tage dem Komitee ihre Erklärung die im wesentlichen Folgendes anfuehrt.2

   Die Delegation begruesste die gemeinsame Friedensaktion des russischen Arbeiter- und Soldaten-Rates und des Holländisch-Skandinavischen Komités, und bracht[e] die unerschuetterliche internationale Gesinnung des juedischen Proletariats und die Friedensliebe des juedischen Volkes zum Ausdruck. Als die Hauptaufgabe der bevorstehenden Stockholmer Konferenz bezeichnete sie die Formulierung der Friedensbedingungen des internationalen Proletariats und die Organisierung des Kampfes fuer den Frieden. Damit die Internationale ihre Mission der Völkerbruederschaft erfuellen kann, muss sie zum Anwalt der unterdrueckten Völker werden; andererseits ist ihre Erhebung zum höchsten legislativen und Exekutivorgan des Weltproletariats erforderlich. In der [dem] Zusammenhang der Internationale muss das staatliche Prinzip durch das nationale ergänzt werden. Die Beschluesse der Konferenz muessen fuer alle Teilnehmer verpflichtend sein.

   Die Delegation spricht sich fuer die Gruendung einer ueberstaatlichen Organisation aus, eines Friedensbundes der Völker mit folgenden Aufgaben: Kodifizierung des Völkerrechts, schiedsgerichtliche Schlichtung staatlicher und nationaler Konflikte, demokratischer Kontrolle der auswärtigen Politik, Abruestung, Verwaltung der zu internationalisierenden Weltverkehrsstrassen, internationale Sozialpolitik, Regelung der Weltproduktion (Verhinderung von Wirtschaftskriegen, Wahrung der Einwanderungsfreiheit, Regelung der Kolonisation, demokratische Kontrolle der Kolonialverwaltung, Wahrung des Freihandels in den Kolonien, Kontingentierung der Rohstoffzufuhren).

   Die Feststellung der Rechte der Nationen und des Inhaltes der nationalen Autonomie in Nationalitätenstaaten soll nicht diesen ueberlassen, sondern im Friedensvertrag international vereinbart und garantiert werden. Durch die Einfuehrung der territorialen Nationalautonomie, d.h. die Umwandlung von Nationalitätenstaaten in Föderationen national abgegrenzter Gebiete wird die nationale Frage fuer die Mehrheiten dieser Gebiete gelöst. Die Rechte der nationalen Minderheiten muessen auf der Grundlage der personalen Nationalautonomie geschuetzt werden.

   Der Verband Poale-Zion unterstuetzt die Forderung der Ukrainischen und Tschechischen Delegationen, dass allen Völkern das Recht zustehen soll, erforderlichenfalls gegen die Schmälerung ihrer Rechte die Intervention des zu errichtenden internationalen Tribunals anzurufen.3

   Die Delegation forderte die Wiederherstellung von Belgien, Serbien und Montenegro, Rumänien, die Vereinigung und Unabhängigkeit von Polen innerhalb seiner ethnografischen Grenzen; die Umwandlung von Russland, Oesterreich-Ungarn, der Tuerkei in Nationalitäten-Bundesstaaten; die Verbesserung der Rechte der nationalen Minderheiten. Eine Urabstimmung der Bevölkerung umstrittener Gebiete soll ueber die staatliche Zugehörigkeit derselben entscheiden. In Bezug auf die Armenier, Ukrainer und Tschechen schlossen sich die Poale Zion den Forderungen der betreffenden Delegationen an.4

   Zur Judenfrage uebergehend, wies die Deklaration auf die Einheit des juedischen Volkes und auf den internationalen Charakter des juedischen Problems hin und forderte die Regelung der Judenfrage im Friedensvertrag. Nach der durch die Revolution erfolgten Gleichstellung der Juden Russlands als Buerger tritt die Frage der nationalen Emanzipation der Juden in allen Ländern ihrer Massensiedlung in den Vordergrund.

   In Bezug auf Polen, das wiedervereinigt und unabhängig werden soll, werden zugleich Buergschaften fuer die Rechte der Juden des Landes als Buerger und Nationalität gefordert. Die Delegation drueckt ihr lebhaftes Bedauern aus, dass auch die Mehrheit der polnischen Sozialisten von den Juden den völligen Verzicht auf ihr Volkstum fordert, und rief das Urteil der Internationale in dieser Frage an.5 Ebenso wurde die internationale Garantierung der buergerlichen und nationalen Gleichberechtigung der Juden Rumäniens gefordert und auf die Verletzung der Bestimmungen des Berliner Vertrages6 durch die rumänischen Machthaber verwiesen.

   Neben der nationalen Autonomie in den Ländern juedischer Massensiedlung erstrebt die Partei die territoriale Lösung der Judenfrage durch die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina. Die Exter[r]itorialität ist die Ursache der abnormen Existenz und der Ausnahmslage des juedischen Volkes. Die juedische Kolonisation in Palästina ist der Anfang einer juedischen Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft, die mit ihrem Wachstum dazu bestimmt ist, ein Anziehungspunkt fuer die juedische Emigration und eine Stätte freier nationaler Entwicklung zu werden. Die Palästina-Forderungen der Poale-Zion sind die Forderungen der grossen Mehrheit der juedischen Demokratie. Sie stehen in vollem Einklang mit den allgemeinen demokratischen Grundsätzen der Freizuegigkeit und des nationalen Selbstbestimmungsrechtes, ebenso wie mit den kolonisatorischen Aufgaben der Menschheit und den Interessen des duenn bevölkerten Landes. Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der juedischen Kolonisationsarbeit in Palästina und der Politik kolonialer Ausbeutung und Expansion.7

   Die Delegation fasst ihre Forderungen fuer das juedische Volk folgendermassen zusammen:

   [...]8

   Die Durchfuehrung aller obigen Forderungen soll international garantiert werden.9

Anmerkungen

1   Auch in CHA, Stockholm, N. & C., Juli 1917:2; IISG, NL Troelstra, 433; ISG, Collection Deuxième International, 241; Zusammenfassung der wichtigsten Forderungen im Kommuniqué in schwed. Social-Demokraten 28.7.1917, S. 4. - Siehe auch Dok. Nr. P/60a-b.

2   Memorandum in IISG, Collection Deuxième Internationale, 242; auch mit hschr. Verbesserungen in CHA, Stockholm, Losse documenten, Mappe Joodse kwestie 1917. In schwed. Social-Demokraten 15.8.1917, S. 4, und 16.8., S. 5. Separatdruck, Stockholm 1917, datiert 6. August 1917, in ARAB, Holländsk-skandinaviska kommittén, Box 1. Abgedruckt in Stockholm 1918, S. 287-297. - Siehe auch Dok. Nr. P/60a.

3   Siehe Dok. Nr. P/36 und Nr. P/45.

4   Siehe Dok. Nr. P/36, Nr. P/45 und Nr. P/59.

5   Im Memorandum der Polnischen sozialdemokratischen Partei Galiziens und Schlesiens (siehe Dok. Nr. P/58) werden die Juden in Polen nur einmal in Polemik gegen die Ablehnung der Forderung nach  Unabhängigkeit angesprochen: "Man hat die völkischen Minoritäten in Polen: die deutsche, jüdische und ukrainische, durch die polnische Unabhängigkeit unruhig machen wollen, indem man Polen von vornherein als unduldsame[n] Unterdruecker ausgeschrie[e]n hatte!" Ansonsten fordert man nur ein freies, unabhängiges, vereintes Polen ohne beispielsweise auf die Frage der Rechte der Minderheiten einzugehen. - Zu den Beziehungen zwischen der jüdischen Arbeiterbewegung und den beiden polnischen Parteien, der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) und der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL), Bunzl 1975, S. 91-95.

6   Berliner Kongreß 1878, auf dem u.a. Rumänien seine Selbstständigkeit bekam und die Stellung der Minderheiten, einschließlich der Juden, festgelegt wurde.

7   Im slowenischen Memorandum (mschr., auf deutsch) von Henrik Tuma, das dem Komitee nicht zugestellt wurde, jedenfalls im Material zu "Stockholm" nicht vorhanden ist, wird die jüdische Frage ausführlich angesprochen; nach Kopie aus dem Nachlaß von Tuma (Akademie der Wissenschaften in Nova Gorica), die freundlicherweise von Prof. Franc Rozman (Ljubljana) zur Verfügung gestellt wurde, in IISG. Eine "staatliche Vereinigung sei geografisch ausgeschlossen und et[h]nografisch schwer möglich", es sei denn durch eine Besiedlung in Palästina. Dies sei jedoch ein privates Unternehmen und deshalb werde die Judenfrage bei Friedensverhandlungen "kaum in erste Erwägungen" kommen. Es bleibe die Möglichkeit, "autonome Religionsgemeinden" zu bilden, die auch mit territorial geschlossenen Räumen entsprechen könnten, und in den Religionsgemeinden "ihre kulturellen Einrichtungen selbständig durchzuführen". Tuma bezeichnet dies als eine "Art der Autonomie". Bekämen die Juden politische Freiheit in Rußland, Polen und Rumänien, so fielen "damit von selbst alle separatistische Bestrebungen".

8   Dies entspricht wörtlich dem Punkt 3 im oben in Anm. 2 nachgewiesenen Memorandum "Unsere jüdischen Forderungen". Diese auch wiedergegeben in Vorwärts 8.9.1917, S. 2.

9   Dies ist auch der abschließende Satz im Memorandum.