Marienthal

Book review: Surman on Müller (in German)

Müller, Reinhard: Marienthal. Das Dorf - Die Arbeitslosen - Die Studie. Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2008. ISBN 978-3-7065-4347-7; Hardcover; 423 S.; EUR 39,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Jan Surman, Universität Wien
E-Mail: [mailto]jan.surman@univie.ac.at[/mailto]

"Marienthal ist ein kleines Fabrikdorf an der Fischa-Dagnitz im Steinfeld."[1] Mit diesen Worten begann die längst zum Klassiker avancierte, 1933 veröffentlichte soziologische Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisl (später Zeisel). Mit erfindungsreichen sozialwissenschaftlich-empirischenErhebungstechniken wurden darin die Auswirkungen der dauerhaften Massenarbeitslosigkeit auf die Bevölkerung eines kleinen Ortes untersucht, und die damit verbundenen psychischen Konsequenzen, wie die wachsende Apathie der Menschen, zum ersten Mal ausführlich wissenschaftlich beschrieben. Seither erreichte die kleine Arbeitersiedlung nahe Wien, in der Gemeinde Gramatneusiedl gelegen, internationale Berühmtheit. Doch beschränkte sich das Wissen um die alte Arbeiterkolonie bislang auf die "Arbeitslosen" - andere Sichtweisen auf die Ortschaft bietet die Monographie Reinhard Müllers vom "Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich", die mit der dazugehörigen Internet-Seite[2] das umfassendste Kompendium zur Dorfgeschichte Marienthals sowie zur Studiengeschichte zu bieten versucht.[3]

Das Buch setzt sich aus zwei Teilen zusammen - in dem ersten (S. 18-237) wird der Leser in die Geschichte Marienthals bzw. Gramatneusiedls, von den Anfängen um 1120 bis zur heutigen Zeit eingeführt, wobei das Hauptaugenmerk auf Bevölkerung und Industrie gelegt wird. Ursprünglich ein unbedeutendes Dorf, erhielt Gramatneusiedl seine strategische Bedeutung durch seine Rolle als Vorposten Wiens und wurde daher durch politisch-militärische Entwicklungen, von den Türkenbelagerungen bis zum Zweiten Weltkrieg, geprägt. Die Entwicklung der Gemeinde steht aber in untrennbarem Zusammenhang mit der Entwicklung der Textilindustrie und der damit einhergehenden Arbeiterkolonie Marienthal ab den 1820er-Jahren. Nach wirtschaftlich erfolgreichen und weniger erfolgreichen Jahren, wurde die Fabrik 1930 fast zur Gänze stillgelegt, was zu Massenarbeitslosigkeit führte, die das Interesse der Forscher der "Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle" auf sich zog. Die horizontale Perspektive der Marienthal-Studie geht aber einher mit zeitlichen Veränderungen, etwa der Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung in Gramatneusiedl, die das Leben der Gemeinde Anfang des 19. Jahrhunderts prägte. Somit bietet Reinhard Müller in diesem Teil eine historische Studie, die eine Ergänzung der soziologisch-psychologischen darstellt.

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