'Work in Progress'. Arbeit in der Schweiz

Call for papers, deadline 1 July

Schweizerisches Sozialarchiv; Forschung Ellen Rifkin Hill 14.11.2013-16.11.2013, Zürich
Call for papers
Deadline: 01.07.2013

WORK IN PROGRESS. ARBEIT IN DER SCHWEIZ
AutorInnenworkshop vom 14.-16. November 2013 in Zürich

Arbeit ist heute omnipräsent. Gleichzeitig erscheint sie ambivalent. Jüngere Komposita wie "Beziehungsarbeit", "Familienarbeit" oder "Arbeit am Selbst" suggerieren eine Ausdehnung der Arbeit auf unterschiedlichste Bereiche. Umgekehrt verstärken Diskussionen um den Anstieg von Arbeitslosen, über Lehrstellenmangel und Formen prekarisierter Arbeit den Eindruck, es liege hier ein Schwundphänomen vor. Es ist von einer "Krise der Arbeit" und einem "Ende der Arbeitsgesellschaft" die Rede.
Die Neubestimmungen und neuen Unbestimmtheiten in der Semantik von "Arbeit" bringen zum Ausdruck, dass sich menschliche Tätigkeiten und ihre Bedeutungen ändern. Die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit und zwischen Arbeitenden und Nicht-Arbeitenden verschieben sich. Gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die soziale Organisation und die subjektive Wahrnehmung von Arbeit erneut in Bewegung geraten.

Reflektiert und vorangetrieben wird die Relativierung der "Normalerwerbsarbeit", wie sie im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung codiert wurde, auch von den Sozial- und Geisteswissenschaften. Sie hinterfragen die Gleichsetzung von Arbeit mit
(männlicher) Erwerbsarbeit und betonen, dass die westliche Erwerbsgesellschaft kein universales Modell darstellt, sondern als Besonderheit begriffen und historisiert werden muss. Wie insbesondere
global- und geschlechterhistorische Studien verdeutlicht haben, macht es in analytischer Hinsicht wenig Sinn, von einem konstanten, im Vornherein feststehenden Arbeitsbegriff auszugehen. Aussichtsreicher ist es, Arbeit als eine unter vielen menschlichen Tätigkeiten zu betrachten, deren Abgrenzung (z.B. als Erwerbsarbeit oder Hausarbeit) sozial definiert ist und politisch umstritten sein kann. Davon ausgehend gilt es, die historischen Konstellationen und Prozesse zu rekonstruieren, mit Bezug auf welche bestimmte Konzepte, gesellschaftliche Arrangements und Subjektivierungsformen von Arbeit entstanden sind, verbindlich wurden oder an Selbstverständlichkeit einbüssten.

Hier setzt die Tagung "Work in Progress. Arbeit in der Schweiz" an. Ausgangspunkt ist ein Buchprojekt, das vom Ellen-Rifkin-Hill-Fonds des Schweizerischen Sozialarchivs gefördert wird. Die Veranstaltung ist auf diese Publikation ausgerichtet und zielt auf die Diskussion erster Versionen von Buchbeiträgen. Angestrebt wird eine Publikation, welche die Veränderungen der Arbeit, die heute vor allem im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel in der Spätmoderne diskutiert werden, in einer historischen Perspektive situiert. Vorwiegend am Fallbeispiel der Schweiz sollen neue Gesichtspunkte und Möglichkeitsräume des Umgangs mit der Geschichte der Arbeit entworfen werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um nationale Besonderheiten. Wegleitend ist die Einsicht, dass sich globale Prozesse in lokalen Verhältnissen realisieren und dass institutionelle Rahmenbedingungen und gesetzliche Regulierungen die Deutung und die Wertschätzung jener Praktiken, die als "Arbeit"
bezeichnet werden, stark geprägt haben - wobei transnationale Einflussfaktoren (Arbeitsmigration, Techniktransfer, Wissenszirkulation,
etc.) den Kontext des Nationalstaats ebenso relativieren wie lokale Alltagspraktiken und subjektive Aneignungsweisen.

Der zeitliche Schwerpunkt der Publikation liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Erwünscht sind quellenbasierte Beiträge, die an folgende Fragestellungen und Themenkomplexe anschliessen:

SOZIALE ORGANISATION: Auch in der Schweiz wurde Arbeit im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem zentralen Wert erhoben. In der Form der Lohnarbeit gerann sie zur Basis der gesellschaftlichen Ordnung und zum Schlagwort für soziale Bewegungen und Konflikte. Sie wurde zum Schlüsselbegriff der gesellschaftlichen Selbstthematisierung und trat den Individuen als moralische Pflicht zur Arbeit gegenüber. Die vielfach gebrochene Kodifizierung der modernen Erwerbsarbeit vollzog sich im Kompetenzraum des Nationalstaats. Welche transnationalen und lokalen Ideen, Interessen und Institutionen prägten die soziale Organisation der modernen Erwerbsarbeit - mit welchen Rückwirkungen auf das Handeln und die (Selbst-)Wahrnehmung der historischen Subjekte? Welche Rolle spielte die Wissenschaft in diesen Prozessen? Ausgehend von welchen Konzepten von Arbeit wurden welche Vorstellungen von Nicht-Arbeit erzeugt? Wie überlagern und verstärken sich die Genderdifferenz und der Ausschluss vieler Herstellungsprozesse aus dem Feld der gesellschaftlich sanktionierten "richtigen" Arbeit? Zu untersuchen sind die sozialen, ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Verflechtungen, die bestimmten Konzepten von Arbeit eine - die Wahrnehmung und Praxis des alltäglichen Lebens prägende - soziale Wirklichkeit verliehen. Mögliche Ausgangspunkte sind: Institutionelle Arrangements (Unternehmen, Tarifvertragssystem, Sozialpolitik, Familienmodelle, Berufsbilder), Akteursgruppen (Gewerkschaften, Arbeitgeber, Frauenbewegung) oder arbeitsbezogene Wissensbestände (Scientific Management, Work-Life-Balance, Humanisierung von Arbeit). Zu den Themen gehören aber auch "Sonderfälle" von Arbeit (Gastarbeit, Temporärarbeit, Arbeitsmigration), "unmoralische Arbeit" (Kinderarbeit, Prostitution, Betteln, Sonntagsarbeit), "unsichtbare" Arbeit (Hausarbeit, Schwarzarbeit, Schattenwirtschaft, economia sommersa, underground economy), alternative Arbeitsformen (Sold, Dienst,
Genossenschaftsarbeit) oder der "Ruhestand".

SUBJEKTIVIERUNG: An die westliche "Arbeitsgesellschaft" knüpft sich eine Anthropologie der Arbeit, die Erwerbsarbeit zu einem Kernelement von Identität, Freude und Gesundheit, aber auch von Konflikt, Belastung und Krankheit erklärt. Wer sein Leben erzählt, geht meist ausführlich auf die geleistete Arbeit ein. Beruf und Berufsstellung sind zu zentralen Schablonen der Selbst- und Fremdwahrnehmung geworden. Gleichzeitig ist die Geschichte der Arbeitsgesellschaft eine Geschichte von Werkzeugen, Maschinen und Techniken der Arbeit. Diese sind nicht bloss Hilfsmittel, sondern Artefakte, die auf entgegenkommende Subjektdispositionen angewiesen sind. Entsprechend knüpft sich an die Verheissung von der Unterstützung der menschlichen Arbeit durch Technik stets auch die Furcht vor der Unterwerfung unter sie. Wie wurde der Zusammenhang von Arbeit und Identität jeweils organisiert, ausformuliert und erlebt? Wie ging die sozialistische Arbeiterbewegung mit der Ambivalenz der Arbeit als einer emanzipatorischen Potenz und einem Subordinationsprinzip um?
Wie werden soziale Praktiken und Subjekte durch materiale Kulturen restrukturiert? Wie korrespondieren neue Arbeitsformen mit menschlichen Bedürfnissen und wie werden letztere durch diese geprägt? Von Interesse sind sowohl die Orte und Praktiken der Verknüpfung von Arbeit und Identität (Betrieb, Schule, Arbeitslager, Lehre, CV, Ratgeber, Familie, Literatur) als auch die wissenschaftlichen Theorien und öffentlichen Debatten, die diesen Zusammenhang zum Thema machen ("Leistungsgesellschaft", "eindimensionaler Mensch", "flexibles Selbst"). Weitere Themen: Die Geschichte von Berufskrankheiten, des "Workaholics", der Arbeitsmoral (resp. deren Krisen), der Berufsberatung oder der Arbeitstherapie. Erwünscht sind auch Beiträge zur Geschichte verhaltensmodulierender Substanzen (Saridon, Ritalin, Alkohol, Narkotika, Prozac), zum materiellen und symbolischen Eigenleben bestimmter Artefakte (Maschine, Roboter, Stempeluhr, PC, mobile Phone) oder zu Wandel und Kontinuität arbeitsbiografischer Muster und Zuschreibungen.

Der Call richtet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen. Für die Präsentation und Diskussion der vorgängig verschickten Beiträge (first drafts) ist eine Länge von 50 Minuten vorgesehen. Ein Interesse an der späteren Publikation im geplanten Buchprojekt wird vorausgesetzt. Der Workshop ist nicht öffentlich, es werden jedoch wissenschaftliche Kommentatorinnen und Kommentatoren anwesend sein. Es geht darum, erste Forschungsergebnisse, Überlegungen und Thesen zur Diskussion zu stellen und einen Entwurf für die Gestaltung der Publikation zu testen. Wir streben eine wechselseitige Anregung der vorgestellten Beiträge an, auf deren Basis die Buchbeiträge bis im März 2014 erarbeitet werden können. Reise- und Übernachtungskosten werden übernommen. Für die fertigen Aufsätze kann ein Honorar entrichtet werden.

Wir freuen uns auf Abstracts zwischen 250 und 500 Wörtern und bitten um Einreichungen per Email an: bernetb [at] ethz.ch. Einsendeschluss ist der 1.07.2013. Die Benachrichtigung über eine Annahme erfolgt bis zum 20.07.2013.

Prof. Dr. Jakob Tanner
Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich Rämistrasse 64
8001 Zürich
jtanner [at] hist.uzh.ch

Dr. Brigitta Bernet
Institut für Geschichte der ETH Zürich
Clausiusstrasse 59
8092 Zürich
bernetb [at] ethz.ch

Homepage http://www.sozialarchiv.ch/

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