Sitzung des Holländisch-skandinavischen Komitees mit der Delegation aus Indien, 12. Juli 1917

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CHA, Stockholm, N. & C., Juli 1917:2. Hschr. (Arthur Engberg), 7 S.1

Les Hindus

Conf. le 12 juillet 1917

   Branting erklärt dass die Konf.[erenz]
eigentl.[ich] nicht anderen als soz.[ialistischen] Parteien Zulassung giebt.
Aber dass es jedoch vom Interesse ist auch solche nat.[ionale] Parteien zu
hören die eigene Wünsche haben.2 Wir müssen den
Vorschlag machen dass Sie ein Memorandum machen, das von Sekr.[etär] des
Kom.[itees] der Konf.[erenz] vorgelegt werden kann.

   Ind[er]:3 Wir wünschen nur den
Standp.[unkt] der Indier [Inder] zu vertreten Wir erwarten nicht dass die
Konferenz ganz d.[en] Standp.[unkt] der Ind.[er] verstehen kann. Das indische
Volk vertreten wir nichts anderes. Wir wollen sagen dass wir die Sache nicht
mehr vom Standp.[unkt] der engl.[ischen] Soz.[ialisten] betrachten. Das
Indische Volk sollte betr. der Nationalitäten beachtet werden in d.[er]
Konferenz.4

   Betr. d.[er] oekonom.[ischen] Situation haben wir 100 Jahre
gelitten. Jetzt sind die Lebensmittel exportiert. 1915 grosse Hungersnot in
Indien. Die Lebensmittel wiederum exportiert.5

   Troelstra: Ich habe erfahren dass d.[ie] Labour
Party eine Besserung angestrebt hat.

   Ind.[er]: Die Situation ist dass wir
Indier nur Reformen wünschen.6 - Sechs Prozent können
lesen.7 Die Führer d.[es] Volkes hatten einen nat.[ionalen]
Kongress. Die Kosten zu gross für d.[as] Erziehungswesen. Jede
begründete Schule nennt man .... [so in der Vorlage] Schule. Das Volk
gründet auch selbst Schulen.8 - Das Englisch wird gelernt. Nur
Englisch ist d.[ie] Spr.[ache] d.[er] Universitäten. Die litterarische[n]
Sprachen sind 11. Es sind 100 Dialekte. Wir haben nur eine
Nationalität.9 Es ist kein Rassenunterschied unter d.[en]
Leuten. Die Realität ist die Sprachfrage zu ordnen.

   Troelstra: Agrikultur?

   Ind.[er]: 85 % sind Bauern.10 In
Bengalen haben wir kleine Länder. Bengal[en] hat bessere
wirtschaftl.[iche] Entwickl.[ung].

   Huysmans: Wie kann d.[ie] indische Frage vor
d.[ie] internat.[ionale] soz.[ialistische] Konf[erenz] kommen? Wie sehen Sie
die Frage praktisch? Wollen Sie in d.[er] nächsten Zukunft
vollständige Unabhängigkeit haben? - Aber wir Sozialisten haben
leider nicht den nötigen Einfluss.

   Ind.[er]: Wir hoffen von den engl.[ischen]
soz.[ialistischen] Parteien.

   Huysmans: Ich hatte schon von Anfang an den
Eindruck dass ich vorbeugen müsse dass hier die Idee d.[er] ind.[ischen]
Frage verpfuscht würde. Wir [Wie] können wir aber prakt.[isch] zu
etwas kommen? Es ist am besten dass Sie sich mit d.[er] engl.[ischen]
Delegation in Verbind.[ung] setzten.11

   Ind.[er]: Wir stehen im Verdacht dass wir
deutsche Agenten sind.12 So ist es nicht. Wir fordern aber dass
unsere Interessen auf dem Friedenskongresse nicht nur von Engländern
vertreten wird sondern auch von den Indiern [Indern] selbst.13

   Huysmans: Das Europa von heute steht nicht in
einem Kriege wegen Indien. Die Fragen beim Friedenssch.[luß] müssen
deshalb sich auf die mit d.[em] Kriege zusammenh.[ängenden] Fragen
beziehen. Die Frage ist: giebt diese allgemeine Situation etwa eine besondere
Hoffnung für Indien.

   Troelstra: Das einz.[ige] was wir tun können
ist das wir der engl.[ischen] Deleg.[ation] Geleg.[enheit] geben die Frage
ein[em] grösseren Publ.[ikum] vorzulegen. Vom menschlichen Standp.[unkt]
aus so müssen wir selbstverst.[ändlich] doch Ihre Frage vor der
engl.[ischen] Del.[egation] vorführen. Die indische Frage sehr wichtig.
Aber sie ist im Emporkommen.

   Branting: Sie wollen also ein Memorandum geben
dass den Mitgliedern d.[er] Konferenz ausgeteilt werden kann. Bitte dass Sie
d.[as] Memorandum in einigen Wochen uns geben.14

Anmerkungen

1   In CHA, Stockholm, N. & C., Juli 1917:2, auch Notizen von
Huysmans (hschr., 2 S.). Notizen von Troelstra, in IISG, NL Troelstra, 423. -
Pressekommuniqué Dok. Nr. P/55a. Siehe auch Virendranath Chattopadhayaya
an Huysmans, 3.7.1917, in CHA, Stockholm, N. + C., Juli 1917:2; Bericht von
Chattopadhyaya, 16.7.1917, in PA AA, WK Nr. 2 c, Bd. 6, S. 164-167 (Abschrift
auch S. 49f.); Bericht von Hermann Müller, 31.7.1917, in PA AA, WK Nr. 2
c, Bd. 7, S. 68-70. - Die Sitzung dauerte nach den angeführten Notizen von
Huysmans von 12 bis 13 Uhr.

2   In einem Schreiben an Huysmans, 3.7.1917, in CHA, Stockholm,
N. & C., Juli 1917:2, erwähnt Chattopadhyaya, daß die beiden
indischen Delegierten vor einigen Wochen beim Organisationskomitee wegen einer
Unterredung vorgesprochen hätten. Ihnen wurde geraten, sich mit der
englischen Delegation in Verbindung zu setzen, die allerdings nicht aufgetaucht
sei. Er bittet jetzt um "a separate audience to lay all the facts regarding
India before the Dutch-Scandinavian Committee". Ziel für die 315 Millionen
Inder sei "an independent existence". Nach einem Artikel in Aftonbladet
10.7.1917, S. 8, "På indiska byrån" [Im indischen Bureau], seien
die beiden indischen Vertreter von Branting zunächst "mycket avisande"
[sehr abweisend] behandelt worden. Chattopadhyaya sei enttäuscht gewesen,
daß er bei Branting wenig Verständnis für seine Bemühungen
gefunden habe. Branting habe ihn aber gestern "viel freundlicher " ("mycket
vänligare") behandelt. "Er machte dabei gewisse Versprechungen in der Art,
daß er mir in meiner Absicht zuvorkam, eine Stellungnahme über die
Gründe veröffentlichen zu lassen, die erklären, warum unserer
Sache auf der Friedenskonferenz beachtet werden sollte. Der Artikel war bereits
geschrieben, aber jetzt ist er nicht so eilig" ("Han gjorde därvid vissa
utfästelser av den art, att han förekom mig i min avsikt att
låta publicera en redogörelse för de skäl som motivera
beaktande av vår sak vid fredskonferensen. Artikeln var
färdigskriven, men nu får den anstå").

3   Die Delegierten waren Virendranath Chattopadhyaya und M. P. T.
Acharya. Sie hatten im Mai 1917 in Stockholm das Europäische
Zentralkomitee der indischen Nationalisten gegründet, zugehörig dem
im September 1914 konstituierten Indischen Unabhängigkeitskomitee; zu
diesem Komitee Krüger 1970, S. 23f.; Barooah 1977, S. 228. Sie nahmen auch
an den Aktivitäten der "unterdrückten Nationen" teil, dazu Zetterberg
1978, S. 215ff., bes. S. 219-221. - Ihr Büro teilten sie mit dem irischen
Unabhängigkeitskomitee, The Friends of Irish Freedom, siehe Bericht in
Aftonbladet 10.7.1917, S. 8, und Bericht Stobbe, 16.7.1917, abgedruckt bei
Lademacher 1967, S. 536 (535-537). - Nach den Notizen von Huysmans,
nachgewiesen oben in Anm. 1, legte Chattopadhyaya zwei Stellungnahmen vor
("Soumettre 2 memoranda qui seront distribués aux
délégués"). Es handelt sich bei der einen Stellungnahme
vielleicht um die vom Europäischen Zentralkomitee der indischen
Nationalisten herausgegebene Broschüre "Reden und Resolutionen der
internationalen Sozialistenkongresse über Indien" ("Speeches and
resolutions on India at the International socialist congresses"); auf engl. in
CHA, Stockholm, N. + C., Juli 1917:2; auf deutsch in PA, AA, WK Nr. 2 c, Bd. 1,
S. 121 (7.6.1917); vorhanden auch in ARAB, Bibliothek, Br 12485. Von Acharya
auch an Ture Nerman übersandt, 13.6.1917, in ARAB, NL Nerman, 3:2, und
ebenso von Acharya an Huysmans, 31.7.1917, als Ersatz für die zuvor
zugestellte "incorrect edition", in CHA, Stockholm, Corr., Juli 1917, Nr. 127.
Gleichzeitg wurden zwei weitere Broschüren übersandt: "Opinions of
English socialist leaders" [zu Indien] und "Selbst-Regierung für Indien.
Gefordert vom Indischen Nationalkongreß und der All-India moslem league,
Lucknow, Dezember 1916" (Berlin, o.J.); letztere vorhanden in CHA, Dossiers, I
541. Das Indische Nationalkomitee veröffentlichte 1917 weitere
Broschüren in Stockholm: "Amerikanska uttalanden om det brittiska
herraväldet i Indien"[Amerikanische Stellungnahmen zur britischen
Herrschaft in Indien]; Lala Rajpat Rai, "Reflexioner över det politiska
läget i Indien" [Überlegungen zur politischen Lage in Indien], vom
Komitee bearbeitet und herausgegeben. - Zur Stellungnahme von Vertretern der
indischen islamischen Bewegung in Stockholm siehe Dok. Nr. P/75a.

4   Siehe auch den oben in Anm. 1 nachgewiesenen Brief von
Chattopadhayaya an Huysmans vom 3.7.1917.

5   Export nach England, so in den Notizen von Troelstra,
nachgewiesen oben in Anm. 1. Nach den Notizen von Huysmans, ebd., wurde weiter
auf Steuererhöhungen hingewiesen.

6   Nach den Notizen von Huysmans, nachgewiesen oben in Anm. 1:
"b) Les Indous ne veulent pas de réformes. - Les fonctionn[aires] indous
ne valent mieux que les Anglais".

7   In den Notizen von Troelstra, nachgewiesen oben in Anm. 1:
"lezen en schrijven" [lesen und schreiben]. Nach den Notizen von Troelstra und
Huysmans, ebd., 11% der Männer, 1% der Frauen.

8   Nach den Notizen von Huysmans, nachgewiesen oben in Anm. 1:
"L'école libre est considérée comme séditieuse.
Surtout depuis 15 ans. A cause du mouv[ement] révolutionnaire. Chaque
professeur communique l'opinion de ses étudiants (Université)". -
Diese Fragen zur Ausbildung werden auch im Memorandum der indischen islamischen
Delegation aufgegriffen, dort mit dem Hinweis, daß die Errungenschaften
von den Engländern vernichtet worden seien; siehe Dok. Nr. P/75a mit Anm.
7-8.

9   Nach den Notizen von Huysmans, nachgewiesen oben in Anm. 1,
ergänzend: "Le problème est d'avoir g[ouvernemen]t N[ord] et
g[ouvernemen]t Sud".

10   In den oben in Anm. 1 nachgewiesenen Notizen von Troelstra:
"kleine boeren" [Kleinbauern].

12   Diese Empfehlung hatte Huysmans schon vorher gegeben, wie aus
Chattopadhayayas oben in Anm. 1 nachgewiesenen Schreiben vom 3.7.1917
hervorgeht. Da aber eine englische Delegation nicht eingetroffen sei, habe man
dies nicht tun können. "We shall not hesitate to discuss matters fully and
frankly with them, although we are not at all sure whether the murky atmosphere
of the present war has not dimmed their former clearness of vison and
judgement". Gleichzeitig wies er darauf hin, man agiere "absolut
unabhängig von jeder britischen Partei" ("absolutely independent of every
British Party". - Eine derartige Kontaktaufnahme hatte man auch Mohamed Farid
empfohlen, siehe Dok. Nr. P/53.

13   In seinem oben in Anm. 1 nachgewiesenen Schreiben an
Huysmans, 3.7.1917, protestierte Chattopadhayaya gegen "the injustice that is
being done to us by several members of the Dutch-Scandinavian Committee who
vaguely suspect us of working "in the interest of Germany" and who indeed go so
far as to refuse to talk to us on the ground that we "come from Berlin"! [...]
we entertain the hope [...] that International Socialism will still rise
above the mean and sordid passions of the hour and raise its voice on behalf of
all suffering and subject nationalities, irrespective of the personal
sympathies that may exist for one or other of the oppressors. What we demand is
fairness, consistency and impartiality. We regret to have to say that we have
failed to find these in Stockholm. [...] we seem to have become the unfortunate
and undeserving victims of the Germanophobia of our enemies and of their
"neutral" friends" [...] I beg to express the sincere hope that the
Dutch-Scandinavian Committee will not allow the cause of the 315 million
inhabitants of India and their clear case for an independent national
existence
, to suffer merely because of objections raised against myself and
my colleagues for belonging to a Committee that works in and from Berlin".
Kritisch reagierten Chattopadhyaya und das Indische Nationalkomitee dann auch
auf den Friedensentwurf des Holländisch-skandinavischen Komitees
(10.10.1917); dazu den vorbereiteten Korrespondenzteil 1917. - Nach einem Brief
von Christian L. Lange an Branting am 12.6.1917, in ARAB, NL Branting, 3.1.11,
ließ Eduard Bernstein mitteilen, daß einige Inder nach Stockholm
kommen wollten; sie würden vom deutschen Auswärtigen Amt
unterstützt. Zum deutschen Interesse an den Indern und ihrer
Unterstützung 1917 siehe PA AA, WK Nr. 2 geh., Bd. 36, S. 152; WK Nr. 2 c,
Bd. 1, S. 85-87, 105-106, 108, 113; Bd. 2, S. 39, 97, 137, 134; Bd. 4, S. 14,
70-71; Bd. 5, S. 12; Bd. 6, S. 43-44, 49-50, 78-80, 164-167; Bd. 7, S. 84; Bd.
8, S. 79, 166-167, 269-277; Bd. 9, S. 1; Bd. 10, S. 42, 80-82, 118, 132-133;
Bd. 11, S. 48-49, 69-70, 122-123; Barooah 1977, besonders S. 167-213;
Krüger 1970, S. 22-25.

14   Diese Forderung auch in den oben in Anm. 1 nachgewiesenen
Notizen von Huysmans und Troelstra. Außerdem in den Notizen von Huysmans:
"d) Nous n'obtenons rien que par le terrorisme". Ebenso in den Notizen
von Troelstra: "eenige hoop is: terrorisme in Indie" [die einzige Hoffnung ist:
Terrorismus in Indien]. - Zur indischen Befreiungsbewegung auch einige Angaben
im oben in Anm. 1 nachgewiesenen Schreiben von Chattopadhayaya an Huysmans am
3.7.1917. Ausführlich dazu und zu ihren Beziehungen zur
Arbeiterbewegung vor 1914 Krüger 1981, 1984 und 1985; auch Barooah 1977,
S. 172-213.

15   Ein Memorandum ist nicht vorhanden. In Stockholm 1918, S.
407, wird nur in ein paar Zeilen eine Zusammenfassung der Besprechung gegeben,
die dem Inhalt des Pressekommuniqués, siehe Dok. Nr. P/55a, entspricht.
- In seinem oben in Anm. 1 nachgewiesenen Schreiben an Huysmans am 3.7.1917,
erbat Chattopadhyaya die Gelegenheit, dem Komitee nochmals das indische Problem
("the case for India") durch eine vier- bis fünfköpfige Delegation
vorzulegen. Am 12.8.1917 erbat er von Huysmans erneut einen Termin für
"ein informelles Gespräch" ("an informal talk with you about India"), in
CHA, Stockholm, Corr. Aug. 1917, Nr. 40.